J. Heuman u.a. (Hrsg.): Early Holocaust Memory in Sweden

Cover
Titel
Early Holocaust Memory in Sweden. Archives, Testimonies and Reflections


Herausgeber
Heuman, Johannes; Rudberg, Pontus
Reihe
The Holocaust and its Contexts
Erschienen
Anzahl Seiten
XIII, 334 S., 2 SW-Abb.
Preis
€ 119,89
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christhard Hoffmann, Universität Bergen / Zentrum für Holocaust- und Minderheitenstudien, Oslo

Anders als Dänemark und Norwegen ist Schweden im Zweiten Weltkrieg nicht von Nazi-Deutschland besetzt worden, hat aber durch die Lieferung von Eisenerz und die Transfererlaubnis für Wehrmachtssoldaten den deutschen Kriegseinsatz durchaus aktiv unterstützt. In der zweiten Kriegshälfte hat das Land dann in zunehmendem Maße eine Politik der humanitären Hilfe für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung betrieben. Die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus Norwegen (Ende 1942) und Dänemark (Oktober 1943), die Mission des Diplomaten Raoul Wallenberg zur Rettung ungarischer Juden 1944 und die nach Verhandlungen mit Heinrich Himmler ermöglichte Überführung von ungefähr 25.000 Menschen aus deutschen Konzentrationslagern nach Schweden im Frühjahr 1945 sind nur die bekanntesten Beispiele dieser Politik. Bei Kriegsende und in der unmittelbaren Nachkriegszeit befanden sich ungefähr 12.000 jüdische Flüchtlinge aus Mitteleuropa, Norwegen und Dänemark sowie eine ebenso große Anzahl von jüdischen Überlebenden aus Konzentrationslagern in Schweden. Bis 1947 verringerte sich die Zahl jüdischer Flüchtlinge und Überlebender auf ungefähr 7.000 Personen, machte also etwa die Hälfte der in Schweden lebenden Juden aus.

Der von den Historikern Johannes Heuman und Pontus Rudberg herausgegebene Sammelband ist ein wichtiger Beitrag zur Historisierung der Holocausterinnerung. Er untersucht am Beispiel Schwedens, wie der Völkermord an den europäischen Juden in der frühen Phase zwischen den späten 1940er- und frühen 1960er-Jahren dokumentiert, erinnert und gedeutet wurde. Die verschiedenen Beiträge bestätigen, was Hasia R. Diner in ihrer Studie über die Holocausterinnerung amerikanischer Juden 2009 als „Myth of Silence“ bezeichnet hat.1 Auch in Schweden gab es in der Nachkriegszeit keineswegs ein allgemeines Schweigen über die jüdische Katastrophe, sondern verschiedene Initiativen zur Dokumentation, Darstellung und Erinnerung. In der präzisen historischen Rekonstruktion der diversen Akteure, Projekte und Perspektiven und der genauen Unterscheidung von verschiedenen Milieus und Öffentlichkeiten (Überlebende, transnational-jüdische, schwedisch-jüdische und allgemeine schwedische Öffentlichkeit) liegt eine besondere Stärke des Bandes.

Ein eindrückliches Beispiel für die oft kurzlebigen Versuche von Überlebenden, Dokumente zur Geschichte des Holocaust zu sammeln, zeigt Johannes Heuman an der Geschichte der polnisch-jüdischen Aktivistin, Journalistin und Lehrerin Nella Rost. In Polen war sie nach dem Krieg zusammen mit Josef Wulf, Filip Friedman und Michel Borwicz Teil eines Netzwerkes von frühen Holocausthistorikern und -historikerinnen gewesen. Als sie 1946 nach Schweden kam, um dort für den World Jewish Congress zu arbeiten, gründete sie eine jüdisch-historische Kommission in Stockholm, die es sich zur Aufgabe machte, Listen von Überlebenden zu erstellen, Zeugenaussagen zu sammeln, den Einfluss des Nazismus und Antisemitismus in Schweden zu dokumentieren und Schulbuchrevisionen anzuregen. Das gesammelte Material sollte in erster Linie praktischen Zielen, z.B. dem Auffinden von überlebenden Verwandten oder der Vorbereitung von Kriegsverbrecher- und Ehrengerichtsprozessen, dienen. Mit dem Wegzug Rosts nach Montevideo 1951 zerstreute sich auch ihr Archiv, dessen Reste heute in Stockholm, Krakow, Montevideo, Cincinnati, Berlin und Heidelberg zu finden sind. Andere Archive, die Zeugenaussagen von Überlebenden in Schweden sammelten, werden von Izabela A. Dahl (über das von Zygmunt Łakociński gegründete polnische Quelleninstitut in Lund) und Pontus Rudberg (über die im Archiv der United Restitution Organisation (URO) in Stockholm gesammelten Berichte jüdischer Überlebender) untersucht.

In der schwedischen Öffentlichkeit und Geschichtsschreibung fanden diese Archive, die die Erlebnisse und Perspektiven der Überlebenden widerspiegelten und oft in einem transnationalen jüdischen Kontext ihren Ursprung hatten, lange Zeit kaum Beachtung. Es gab aber bereits im Krieg und in der Nachkriegszeit zahlreiche schwedische Veröffentlichungen, die über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden informierten. In ihrem Beitrag hat Karin Kvist Geverts 53 Buchpublikationen für die Zeit zwischen 1941 und 1960 identifiziert, die den Holocaust thematisierten, wobei literarische Texte (leider) nicht berücksichtigt sind. Veröffentlichungen vor 1945, die aus Rücksicht auf Nazi-Deutschland und die Zensur eher zurückhaltend formuliert waren, enthielten oft bereits präzise und detaillierte Informationen und hatten die moralische und politische Funktion, die Öffentlichkeit wachzurütteln. Nach dem Krieg standen zunächst die Augenzeugenberichte von Überlebenden und die (schwedischen) Rettungsaktionen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wobei sich eine gewisse Tendenz, den Holocaust zu universalisieren, d.h. als allgemein-menschliche, nicht spezifisch jüdische Katastrophe darzustellen, beobachten lässt.

Auch in der schwedischen Presse wurden der nationalsozialistische Völkermord an den Juden und die Frage nach den Motiven der Täter bereits früh thematisiert, wie Antero Holmila in seiner gründlichen Studie zeigt. Dies galt auch für die Regionalpresse, deren Reaktion auf die Ankunft der dänischen Juden im Oktober 1943 Ulf Zander untersucht hat. Während die rechtliche Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen in der schwedischen Presse breit diskutiert wurde, war das Interesse an den Kriegsverbrecherprozessen in der schwedisch-jüdischen Presse vor dem Eichmann-Prozess eher marginal, wie Julia Sahlström deutlich macht.

Die blinden Flecken der entstehenden nationalen Erinnerungsnarrative in Schweden arbeitet Kristin Wagrell in ihrer Analyse des bereits im Mai 1945 zum ersten Male gezeigten Dokumentarfilmes Vittnesbördet (Das Zeugnis) präzise heraus. Der Film behandelt die schwedischen Hilfsaktionen für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung am Ende des Krieges und sollte indirekt auch der wachsenden Kritik an der schwedischen Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland begegnen. Der Film unterstreicht den Heroismus der schwedischen Retter, während die geretteten Überlebenden eher als eine anonyme, hilflose Masse erscheinen. Dies gilt besonders für die weiblichen Konzentrationslagerüberlebenden, die unter anderem nackt in der Dusche abgebildet werden und – so Wagrell – gleichsam von „Objekten der Misshandlung“ zu „Objekten der Pflege“ wurden (S. 201). Die national- und geschlechtsstereotypisch geprägte Wahrnehmung der Opfer zeigt sich im Film auch darin, dass männliche Skandinavier die einzigen Personen sind, die als Individuen dargestellt werden und mentale Stärke und Zukunftsmut verkörpern.

In der schwedisch-jüdischen Presse der Nachkriegszeit gab es zahlreiche Berichte über jüdische Überlebende und ihre – angesichts der restriktiven britischen Einwanderungspolitik in Palästina – schwierige Lage als displaced persons in Europa. Die Überlebenden wurden dabei nicht nur als hilflose Opfer, sondern als aktive politische Subjekte dargestellt, die sich für das zionistische Projekt engagierten. Wie Malin Thor Tureby in ihrem Kapitel zur Darstellung jüdischer Überlebender in den Zeitschriften Judisk Krönika und Judisk Tidskrift zeigt, konzentrierte sich die Berichterstattung dabei auf Kommissionsberichte, politische Forderungen und Aufrufe zur humanitären Hilfe, während die Stimmen der in Schweden aufgenommenen Überlebenden selbst kaum Gehör fanden. Sie galten als Opfer, die kurzfristig Hilfe benötigten, deren Zukunft aber nicht in Schweden, sondern im zu errichtenden jüdischen Staat in Palästina lag.

Dass der Holocaust das Ende der liberalen Emanzipations- und Assimilationsideologie für Europas Juden bedeutete, war auch die Überzeugung des schwedisch-jüdischen Historikers Hugo Valentin. Bereits in den 1930er-Jahren, so Olof Bortz in seinem Beitrag, sah Valentin im Antisemitismus und der Assimilation die größten Bedrohungen jüdischen Lebens und im Zionismus ein wirksames Mittel jüdischer Selbstbehauptung. Als öffentlicher Intellektueller engagierte Valentin sich in der Flüchtlingshilfe und informierte die schwedische Öffentlichkeit im Herbst 1942 in einem Artikel über den beginnenden Völkermord („Der Vernichtungskrieg gegen die Juden“). Valentin deutete den Holocaust im Rahmen der jüdischen Geschichte als „größten Pogrom der Weltgeschichte“ und als Extremfall jüdischer Machtlosigkeit in der Diaspora. Seine zionistische Geschichtsauffassung, die er unter anderem in seinem 1944 erschienenen Buch „Das Schicksal des jüdischen Volkes: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft“ ausführte, half ihm, die jüdische Katastrophe der Gegenwart historisch einzuordnen. Sie ließ ihn, wie Bortz treffend formuliert, „das Schlimmste erwarten in einer Zeit, in der das Schlimmste tatsächlich geschehen sollte“ (S. 133).

Aber auch die zionistische Geschichtsdeutung war nur eine Stimme in der vielfältigen Holocausterinnerung der unmittelbaren Nachkriegszeit. In ihrem zusammenfassenden Nachwort weist Hasia R. Diner auf Parallelen und Wechselbeziehungen zwischen amerikanischer und skandinavischer Holocausterinnerung hin. Für viele liberale amerikanische Juden zeigten die Rettung der dänischen Juden durch nichtjüdische Nachbarn und die schwedischen Hilfsaktionen am Ende des Krieges, dass ihr Glaube an Rechtschaffenheit, Humanität und Fortschritt nicht unbegründet war.

Anmerkung:
1 Hasia R. Diner, We Remember with Reverence and Love. American Jews and the Myth of Silence after the Holocaust 1945–1962, New York 2009.